Ein Kommando für Deutschland

Das Kommando Territoriale Aufgaben der Bundeswehr in Berlin ist im Katastrophenfall für den Einsatz der Bundeswehr im Inland zuständig: Es ist erprobt und routiniert bei Naturkatastrophen wie Hochwasser, Waldbränden oder Schneemengen, aber seit diesem Jahr ist es auch unentbehrlich im Kampf gegen die Pandemie Covid-19. Wie unterstützt die Dienststelle ganz Deutschland bei der Beherrschung des Virus und seinen Auswirkungen?

Unterstützung durch Transportlogistik

Im Februar 2020 lieferte die Bundesrepublik tonnenweise Schutzkleidung an China, um dem Land im Kampf gegen die Lungenkrankheit Covid-19 beizustehen. Kurze Zeit später suchte man auch hier händeringend nach den gleichen Artikeln. Wer konnte eine schnelle Beschaffung und Verteilung der Güter organisieren? Die Bundeswehr ist für Deutschland ein starker Helfer, damit die Krankenhäuser und Behörden leistungsfähig bleiben. Als das Verteidigungsministerium seine Reservisten einberief und den Normalbetrieb der Truppe auf ein Minimum herunterfuhr, wurde stattdessen im Kommando Territoriale Aufgaben der Bundeswehr (KdoTerrAufgBw) der Schalter auf Hochbetrieb gelegt – mit einer Einschränkung: Viel und schnell helfen, aber mit so wenig Händen wie möglich. Um ihren Kernauftrag weiter zu garantieren, musste die Truppe ihre Ansteckungsrate geringhalten. Auch wenn der Feind unsichtbar ist, gilt bis heute: Mit Abstand am besten.

Helfende Hände

Helfen auf Antrag

„Wenn die Bundeswehr gebraucht wird und rechtlich darf, steht sie zur Verfügung“, versichert Generalmajor Carsten Breuer, Kommandeur des KdoTerrAufgBw. Seit 2013 ist das Kommando die Leitstelle der Katastrophenhilfe der Bundeswehr im Inland – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr. Noch im Frühjahr führte das KdoTerrAufgBw die internationale Verlegeübung DEFENDER EUROPE 2020 taktisch, musste aber nach deren weitestgehendem Abbruch auf die Pandemie reagieren und die Führung des „Einsatzkontingent Hilfeleistungen Corona“ übernehmen. Dessen Struktur, mit vier regionalen Führungsstäben in Ost, West, Süd und Nord, wurde kurzfristig aus Divisionsstäben des Heeres und Kommandobehörden der Marine und Luftwaffe gebildet. Insgesamt stehen der Bundeswehr, unter Verantwortung des Nationalen Territorialen Befehlshabers, Generalleutnant Schelleis, circa 15.000 Soldaten zur Verfügung, dazu weitere 17.000 des Sanitätsdienstes. In der Berliner Julius-Leber-Kaserne werden die Krisenhelfer geführt, denn dort wird über deren Einsatz entschieden. Die Operationszentrale mit über 40 Soldaten – jeder Arbeitsplatz im Abstand von 1,5 Meter – ist ihr Zentrum: Hier gehen alle Lagemeldungen und zivilen Hilfsanträge aus den Landeskommandos und Berlin ein. Täglich kommen neue Anträge dazu, auf dem Höhepunkt der Pandemie waren es mehr als 20 pro Tag. Bis heute beläuft sich die Antragszahl auf über 600 (Stand: Anfang Juni), wovon mehr als die Hälfte nach rechtlicher und technischer Prüfung positiv beantwortet werden konnte.

Lagezentrum während der CORONA-Krise

Schwerpunkt: Von Material zu Personal

Derzeit lockert Deutschland seine Beschränkungen, aber für das KdoTerrAufgBw ist der Auftrag nicht beendet: „Bei uns dreht sich weiterhin alles um die Bewältigung der Corona-Pandemie. Von Entspannung kann immer noch keine Rede sein. Wir leisten mit über 150 gleichzeitigen Einsätzen (Stand: Anfang Juni) weiterhin einen großen Beitrag zur Unterstützung des öffentlichen Lebens“, sagt Breuer. Auch wenn die Bevölkerung vermehrt in den Alltag zurückkehrt, bleibt die Bundeswehr mit derzeit rund 700 Soldaten und Soldatinnen im Einsatz. Zu Beginn der Pandemie lag der Fokus der Hilfeleistungsanfragen auf der Bereitstellung von Sanitätspersonal und -material. Dazu kam die Bereitstellung von Lagerungsmöglichkeiten, die Herstellung von Desinfektionsmitteln oder die Unterstützung von Abstrichstellen und Flüchtlingseinrichtungen. Derzeit liegt der Hilfeschwerpunkt auf der Unterstützung von Pflegeeinrichtungen oder der Mitarbeit in Gesundheitsämtern zur Nachverfolgung von Infektionsketten. Oft werden „Helfende Hände“ bei Essenausgaben, oder für Boten- oder Telefondiensten nachgefragt. „Mit fast 200 Soldaten bildet die Unterstützung in 35 Alten- und Pflegeheimen zu Spitzenzeiten die größte Unterstützungsmaßnahme der Bundeswehr“, sagt Breuer anerkennend und dankt allen Kräften.

Soldaten vom Hubschraubergeschwader 64 stellen gemeinsam mit Mitarbeitern vom Deutschen Roten Kreuz den Rahmen der Typ-2-Zelte in Doberlug-Kirchhain auf im Rahmen der Amtshilfe der Bundeswehr in der Zeit der Corona-Krise, am 09.04.2020.

 

Soldaten vom Wachbataillon transportieren fertige Schränke während des Aufbaus vom Behelfskrankenhaus auf dem Messegelände in Berlin im Rahmen der Amtshilfe der Bundeswehr in der Zeit der Corona-Krise, am 15.04.2020.

Vor der Krise ist nach der Krise

Vor und während Covid-19 hat sich gezeigt, dass die zivil-militärische Zusammenarbeit gut funktioniert und institutionalisiert ist. Beispiele dafür waren die Hilfseinsätze bei der Schneekatastrophe und der Borkenkäferbekämpfung 2019. Die bisherige Bilanz im laufenden Hilfseinsatz gilt ebenfalls als positiv, doch darauf will sich Breuer nicht ausruhen: „Wir haben ein hohes Maß an Effektivität und Effizienz erreicht, das kann aber noch besser werden“, so der 55-Jährige. Möglichkeiten und Potenzial besteht besonders im Feld der Digitalisierung. Ein gemeinsamer Informationsraum und der standardisierte Austausch zwischen den zivilen und militärischen Stellen, könnte die Leistung steigern. Dazu ist technische Kompatibilität nötig, um schneller und sicherer zu beraten und entscheiden zu können. „Ein Projekt dazu ist bereits gestartet“, so Breuer. Dazu gilt es Resilienz aufzubauen und Abläufe zu optimieren sowie Kräfte und Material bereitzuhalten, denn diese Krise wird nicht die letzte Krise in Deutschland sein. Für die Bundeswehr ist Covid-19 eine Herausforderung in der die positive Wahrnehmung durch die Bevölkerung steigt: „Wenn ich die Truppe im Hilfseinsatz besuche, versichern mir alle Beteiligten, dass die Einsätze eine echte Entlastung bringen und einen besonderen Mehrwert darstellen“, sagt Breuer zufrieden. Dennoch ist die Krise weder überstanden noch ein Ende absehbar: „Fest steht, wir können uns noch nicht zurücklehnen. Wir müssen bewerten wie sich die Lage entwickelt und die Reserven für Hilfe vor Ort bereithalten. Wir werden weiter gebraucht. Wir dienen Deutschland. Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Autor: Michael Fuckner

Newsletter Verteidigung 26/2020

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In dieser Ausgabe finden sie die folgenden Themen:

  • Drohnenbewaffnung wird wahrscheinlicher
  • Führungsakademie verabschiedet LGAI-Teilnehmer
  • Marine übernimmt Sea Lion
  • Tierische Unterstützung gegen Corona
  • Flugbereitschaft plant Verlegung
  • Inspekteur Heer zu Besuch bei den Tiger

Der Newsletter Verteidigung (NV) wird vom Verlag Deutsche Spezialmedien veröffentlicht und präsentiert sich im neuen, zeitgemäßen Design. Diesen Newsletter bieten wir als Lizenznehmer 1-mal pro Woche (Dienstag) unseren Mitgliedern kostenfrei  an.

Alle in diesem Portal veröffentlichen Newsletter Verteidigung , ab Ausgabe 45/2018 finden Sie hier.

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Logistische Unterstützung von Operationen der Streitkräfte in den Phasen Bereitstellung, Verlegung und logistische Versorgung

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen einer 3-teiligen Artikelreihe und wird im kommenden Informationsheft und Newsletter des bB fortgesetzt. (Red.)

Teil 1: Beitrag Logistikkommando der Bundeswehr in der Phase Bereitstellung

Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland und der Ausbruch des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine bildeten im Jahr 2014 eine Zäsur in der internationalen Sicherheitspolitik. Als Reaktion auf die damit einhergehende veränderte Bedrohungslage hat die NATO ihr Verständnis zum Einsatz von Streitkräften angepasst. Die Priorisierung von Operationen im Rahmen des Internationalen Krisenmanagements (IKM) konnte unter den veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen nicht mehr aufrechterhalten werden. Der Auftrag und die Befähigung zur Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) wurde deutlich stärker akzentuiert und auch für die Bundeswehr wieder strukturbestimmend. Die deutschen Streitkräfte werden schrittweise befähigt, schnell und kampfkräftig im gesamten Bündnisgebiet in einem 360° Ansatz zum Einsatz kommen zu können. Dieses wird u.a. auch durch die Gestellung der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), für welche Deutschland als bedeutender Truppensteller wiederholt im Jahr 2023 gemeinsam mit Norwegen und den Niederlanden die Führungsverantwortung tragen wird, deutlich sichtbar.

Um die Bündnisverpflichtungen vollumfänglich erfüllen zu können, bedarf es neben durchsetzungsfähiger Kampftruppen gleichzeitig auch einer robusten, agilen, schnell verlegbaren, adaptiven, modularen und durchhaltefähigen logistischen Unterstützung. Die stärkere Akzentuierung der Landes- und Bündnisverteidigung wirkt sich somit auch wesentlich auf das Logistische System der Bundeswehr (LogSysBw) aus, da dieses in der Vergangenheit hauptsächlich auf den eher statischen Einsatz, z.B. aus Feldlagern heraus, im Rahmen kleinerer Einsätze mit planbaren und im Umfang deutlich geringeren Verbräuchen ausgerichtet war.

Ein Szenar Landes- und Bündnisverteidigung unterscheidet sich von diesen Einsätzen jedoch deutlich. Beispielhaft seien die bei LV/BV im Vergleich zu IKM-Einsätzen kurzen Reaktionszeiten, die hohen Verbräuche (z.B. Munition, Betriebsstoff, Ersatzteile), der damit einhergehende große Bedarf an zentraler und dezentraler Lagerungskapazität sowie die Notwendigkeit hoher Mobilität und Verlegefähigkeit der mobilen Logistikkräfte der SKB (mobLogTr SKB) genannt.

Damit sind Anpassungen des LogSysBw unausweichlich, da sich sowohl die Zahl der Aufträge als auch deren Bandbreite deutlich erhöht hat. Im Rahmen der dafür notwendigen Anpassungen des LogSysBw hat sich sehr frühzeitig herauskristallisiert, dass die notwendigen Kapazitäten und Fähigkeiten nicht alleine durch eigene, militärische wie zivile, Kräfte der Bundeswehr bereitgestellt werden können. Vielmehr ist es notwendig, das LogSysBw in ausgewählten Bereichen durch Leistungen multinationaler Partner und durch Kooperationen mit der Wirtschaft zu ergänzen.

Ferner gilt es zu beachten, dass die logistische Unterstützung entlang der gesamten Prozesskette robust und durchhaltefähig gewährleistet werden muss. Gedanklich kann eine derartige Prozesskette als logistische Operation betrachtet werden, welche sich in die Phasen Bereitstellung, Verlegung und der logistischen Versorgung im Einsatz unterteilt. Die drei oben abgebildeten Säulen des LogSysBw wirken sich dabei in den Phasen in unterschiedlicher Gewichtung aus.

Jede Phase einer logistischen Operation und der damit einhergehende Beitrag aus Sicht des Logistikkommandos der Bundeswehr (LogKdoBw) soll Inhalt eines Teils einer dreiteiligen Artikelserie sein. In diesem ersten Teil soll auf ausgewählte Aspekte der Phase Bereitstellung eingegangen werden, wozu es einer mehrschichtigen Betrachtungsweise bedarf.

Zunächst einmal geht der Blick auf die eigenen Kapazitäten der Bundeswehr. Diese werden im Fähigkeitsprofil der Bundeswehr in insgesamt 3 Zwischenschritten (2023, 2027, 2031) definiert, wobei planerisch bereits Anpassungen resultierend aus den Herausforderungen bzgl. der LV/BV erfolgt sind und weiter fortgeschrieben werden. Dabei stehen aus Sicht der logistischen Unterstützung die ortsfesten logistischen Lager- und Instandhaltungs-einrichtungen sowie die mobLogKr SKB im Mittelpunkt.

Der Bereich der Lagerhaltung erfuhr mit der Reduzierung der Streitkräfte in den vergangenen zwei Jahrzehnten und der Fokussierung auf IKM-Einsätze deutliche Einschnitte, welche letztendlich zu einer Bereitstellungslogistik (geringe Lagerbestände, Just-in-time Lieferung durch Industrie) führte. Dieser effizienzbasierte Ansatz war in der Vergangenheit auf Grund der reduzierten und in der Regel langfristig planbaren Bedarfe im Rahmen einzelner, eher kleinerer Einsätze im Rahmen des IKM grundsätzlich tragfähig. Für die Einsätze innerhalb von LV/BV und der damit verbundenen deutlich höheren Bedarfe, u.a. in den Bereichen Mengen- und Einzelverbrauchsgüter, wie z.B. bei Ersatz- und Austauschteilen, sowie schnellerer Reaktionszeiten (Bspl. VJTF 2-7 Tage) ist es zwingend erforderlich, schnellstmöglich den Schritt von der Bereitstellungs- zur Bevorratungslogistik (hohe Lagerbestände, eigene Handlungsfähigkeit) zu vollziehen, damit das LogSysBw wieder über die so notwendige „Pufferwirkung“ und „Robustheit“, eine schnelle Reaktionsfähigkeit und Ad-hoc Befähigung sowie Autarkie und auch Flexibilität verfügt.Um kurzfristig bereits für die VJTF 2023 eine „Pufferwirkung“ im LogSysBw zu schaffen, wird derzeit beispielsweise ein 30-Tage-Einsatzvorrat für Ersatz-/Austauschteile (ET/AT) für die in der VJTF eingeplanten Fähigkeiten aufgebaut. Damit soll eine angemessene materielle Durchhaltefähigkeit der VJTF für einen autarken Betrieb von mindestens 30 Tagen gewährleistet werden. Dieser Ansatz ist in weiteren Schritten für die gesamten Streitkräfte auf Basis der Ergebnisse des Fähigkeitsprofils sowie auf Basis von anzunehmenden Nutzungsprofilen für Einsatzszenare innerhalb der LV/BV auszuweiten. Das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr wird auf Grundlage dieser Ergebnisse sukzessive die notwendigen Beschaffungsvorgänge einleiten, so dass durch diesen Ansatz ein stufenweiser Aufbau eines 30-Tage-Einsatzvorrates für die Streitkräfte gewährleistet werden kann. Die bedarfsgerechte Bereitstellung von Lagerkapazitäten innerhalb des LogSysBw (Basis-/Einsatzlogistik) wird zwischen dem LogKdoBw eng mit den Organisationsbereichen/Teilstreitkräften abgestimmt.

Für die Steigerung der „Robustheit“ der ortsfesten logistischen Einrichtungen sind insgesamt die Kapazitäten und Fähigkeiten zu stärken, die Reaktionsfähigkeit zu erhöhen, der Schutz zu verbessern sowie die Durchhaltefähigkeit zu erhöhen.

Für die bundeswehreigenen Kapazitäten konnte daher im Rahmen des Projektes „ortsfeste logistische Einrichtungen 2019+“ mit der Entscheidung der stufenweisen Reaktivierung und Wiederinbetriebnahme von drei Munitionslagereinrichtungen und fünf Materiallagern ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung eingeleitet werden. Diese Maßnahme kann jedoch nur einen Teilbeitrag leisten, um die benötigten Lagerkapazitäten über alle Versorgungsgüter zur Verfügung zu stellen. Um den Gesamtbedarf wirklich decken zu können, werden auch Neubauten von Lagerinfrastruktur wie z.B. Munitionslagerhäuser sowie Kooperationen mit der Wirtschaft ergänzend notwendig sein.

Mögliche Kooperationen mit der Wirtschaft hat das LogKdoBw im Rahmen seines Projektes „Zukunftsorientierung Kooperationen in der Logistik“ im Fachpanel 2 „Materialbewirtschaftung und Lagerung“ bereits in enger Zusammenarbeit mit Vertretern aus der Wirtschaft erörtert. Darauf aufbauend konnten bereits drei Interessenbekundungsverfahren durchgeführt werden, welche nach Auswertung und Feststellung der Wirtschaftlichkeit noch im Jahr 2020 einer Leitungsentscheidung bzgl. ihrer Umsetzung zugeführt werden sollen.

Auch im Rahmen der Multinationalen Zusammenarbeit werden Kapazitäten für eine gemeinsame Lagerung und damit Bevorratung geschaffen. Das Projekt „Network of LogHubs in Europe and Support to Operations“ als Teil der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit PESCO (Permanent Structurized Cooperation) in Europa hat das Ziel, in Zusammenarbeit mit einer Vielzahl europäischer Staaten ein Netzwerk logistischer Hubs in ganz Europa zu etablieren, um Lagerkapazitäten und weitere Leistungen für die Streitkräfte der verbündeten Staaten bereit zu stellen. Deutschland wird sich dabei mit einem eigenen Hub in Pfungstadt beteiligen, welcher bereits ab diesem Jahr stufenweise Leistungen zur Verfügung stellen wird. Damit können ab 2020 Umschlagleistungen und ab 2024 zusätzlich signifikante Lagerungs- und Instandsetzungskapazitäten multinational bereitgehalten werden. Die damit angestrebte gemeinsame Nutzung nationaler Ressourcen macht somit eine Vorausstationierung von Material möglich und kann damit auch die Phase der Verlegung entlasten. Um ein derartig umfangreiches Netzwerk steuern zu können, bedarf es auch eines leistungsfähigen Steuerungselementes. Für die Umsetzung des DEU Anteils am Gesamtprojekt wurde das Koordinations- und Steuerungselement als Joint Coordination Centre als sogenannter „Trusted Agent“ des Projekts im Logistikzentrum der Bundeswehr in Wilhelmshaven eingerichtet.

Mit einer reinen Kapazitätserhöhung zur zentralen Bevorratung von Material und Munition kann und wird die notwendige Qualität der Bereitstellung von Versorgungsgütern aller Art jedoch allein nicht erreicht werden können. Besonders die Notwendigkeit einer schnellen Bereitstellung in einem Alarmierungsfall macht es erforderlich, dass Vorkommissionierungen erfolgen sowie Rufbereitschaften und Alarmierungspläne wieder zum festen Bestandteil einer Depotorganisation gehören müssen. Nur so wird die notwendige Ausgabebereitschaft ggf. auch 24/7 gewährleistet und die Reaktionszeit insgesamt auf das notwendige Maß reduziert werden können. Insgesamt ist die Robustheit der ortsfesten logistischen Lagereinrichtungen in vier Teilbereichen „Kapazitäten und Fähigkeiten“ – „Schutz“ – „Reaktionsfähigkeit“ und „Durchhaltefähigkeit“ zu steigern.

Neben ortsfesten Einrichtungen bedarf es zur Gewährleistung einer durchhaltefähigen und robusten logistischen Unterstützung auch hoch mobiler Logistikkräfte, welche für den Bereich der Basislogistik durch die mobLogTr SKB in Verantwortung des LogKdoBw als Truppensteller bereitgestellt werden. Dabei gilt es hervorzuheben, dass diese im Falle eines Einsatzes im Rahmen LV/BV mit zu den Kräften der „ersten Stunde“ zählen. Diese Kräfte verlegen sehr frühzeitig in ein Einsatzgebiet. Diese sehr frühe Verlegung ist notwendig, da nur so eine zügige Aufnahme der Streitkräfte im Einsatzgebiet sowie der rasche Aufbau einer Versorgung im Einsatz sichergestellt werden kann. Damit stehen die mobLogTr SKB grundsätzlich nicht im Inland beispielsweise für die Gewährleistung von logistischen Unterstützungsleistungen im Rahmen von Host Nation Support oder zur logistischen Unterstützung der Verlegung von eigenen Kräften zur Verfügung.

Zur Bereitstellung der benötigten Anzahl an mobLogTr SKB muss die Domäne Unterstützung im Rahmen des Fähigkeitsprofils der Bundeswehr grundsätzlich einen deutlichen Aufwuchs erfahren. Für den Bereich der mobLogTr SKB ist es daher Absicht, neben den heutigen Kräften (sechs Logistikbataillone und ein Spezialpionierregiment) noch bis zu vier weitere Bataillone, ein RSOM-Bataillon (Reception, Staging and Onward Movement) sowie die Stäbe zweier Logistikregimenter aufzustellen, um den Anforderungen der logistischen Unterstützung im Rahmen LV/BV gerecht werden zu können. Bereits dieses Jahr beginnt zum 01.10.2020 die Aufstellung des RSOM-Bataillons sowie des Stabs und der Stabskompanie Logistikregiment 1. Die nähere Betrachtung des RSOM Prozesses und die Beteiligung des DEU Bataillons werden u.a. Inhalt des nächsten Teils der Artikelserie sein, da sie der Phase Verlegung zuzurechnen sind.

Auch die materielle Ausstattung spielt im Rahmen der Phase Bereitstellung eine entscheidende Rolle. Einheiten und Verbände sind materiell zu 100% auszustatten und aufzustellen, um einsatzbereit zu sein. Dies gilt auch für die Verstärkungsreserve. Nur durch einen stärkeren und nachhaltigen materiellen Aufwuchs der Domäne Unterstützung wird es gelingen, eine adäquate „Voll“-Ausstattung zu erreichen. Um den Anforderungen von LV/BV gerecht werden zu können, sind Vollausstattungen zwingend. Erste Schritte dafür wurden eingeleitet und erste Erfolge sind bereits sichtbar. Als Beispiel sei hierfür exemplarisch ein erster Zulauf von Schwerlasttransportern 70 t genannt.

Neben dem oftmals im Fokus stehenden Großgerät gilt es jedoch genauso, die SOLL-gerechte Ausstattung mit den benötigten Sonderwerkzeugsätzen und Prüfmitteln, Nachtsichtgeräten, persönlicher Schutzausstattungen sowie Führungsmitteln konsequent voranzutreiben. Hier besteht unverändert großer Handlungsbedarf.

Für alle Bereiche gilt jedoch, dass eine Fähigkeit erst real wird, wenn die Strukturen auch entsprechend personell hinterlegt sind und wenn auch die Ausbildung und damit in letzter Konsequenz das „Mindset“ des Personals auf die neue Aufgabe ausgerichtet ist. Aus diesem Grund wurden die Lehrgänge an der Logistikschule der Bundeswehr wieder mehr auf das Szenar LV/BV fokussiert. Darüber hinaus schaffen Leitfäden und Übungen in der Truppenausbildung wieder Bilder, an denen die Truppe sich ausrichten und vorbereiten kann. Diese bereits in 2017 begonnenen Anstrengungen werden kontinuierlich und konsequent auch in Zukunft fortgesetzt.

Die genannten Maßnahmen der Phase Bereitstellung müssen jedoch lange vor einem Einsatzbefehl für die Streitkräfte abgeschlossen sein, um so die Voraussetzungen zu schaffen, dass zum Zeitpunkt des Einsatzbefehls alle benötigten Fähigkeiten und Mittel vollumfänglich verfügbar sind.

Vor allem der Schritt von der mehr als zwei Jahrzehnte vorherrschenden Bereitstellungslogistik zu einer Bevorratungslogistik kann durchaus als Mammutaufgabe bezeichnet werden. Gleiches gilt für die Ausstattung mit neuem und auftragsorientiertem Material und Gerät.

Die notwendigen Lagefeststellungen sind bereits erfolgt. Nun gilt es, koordiniert und priorisiert die daraus abgeleiteten Maßnahmen umzusetzen. Doch dies bedarf Zeit und Geduld sowie eine gehörige Portion an gegenseitigem Vertrauen und Verlässlichkeit, da in vielen Bereichen auch die Industrie ein wesentlicher Bestandteil, z.B. bei der Herstellung von Gerät und Ersatzteilen, ist. In diesem Zusammenhang ist der über die jeweiligen Zwischenziele des Fähigkeitsprofiles schrittweise Aufbau eines 30-Tage-Einsatzvorrates ein Schritt in die richtige Richtung. Auch wenn insgesamt ein langer Weg vor uns liegt, welcher u.a. auch einen großen Umfang an Ressourcen (Personal, Finanzmittel etc.) erfordert, ist dieser zum Aufbau einer glaubwürdigen Befähigung zur Landes- und Bündnisverteidigung jedoch alternativlos.

Herausgeber: Logistikkommando der Bundeswehr, Abteilung Planung I 1 Konzeption

 

 

Die neue Atomwaffendebatte und die NATO

Die Rückkehr der Kernwaffen in die internationale Sicherheitspolitik

Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a. D.

Im Kalten Krieg verfügten die Atommächte über insgesamt ca. 70.000 Atomwaffen, eine nicht fassbare Vernichtungskraft. Etwa zehn Prozent davon waren auf deutschem Boden disloziert. In einem beispiellosen Abrüstungsprozess haben die Vereinigten Staaten und Russland in den 1990er Jahren ihre Atomwaffen drastisch reduziert. Trotz weitergehender Initiativen einschließlich der Vision eines „Global Zero“ verschwanden die Nuklearwaffen jedoch keineswegs aus der internationalen Sicherheitspolitik. Sie blieben weiterhin Teil der nationalen Streitkräfteplanungen der Nuklearmächte, wurden instand gehalten und modernisiert. Heute verfügen die inzwischen neun Atommächte (USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea) über insgesamt ca. 14.000 Atomsprengköpfe, über 90 Prozent davon befinden sich in den russischen und amerikanischen Streitkräften. Der Einsatz selbst eines kleinen Bruchteils all dieser Waffen würde nicht nur Millionen von Menschenleben vernichten und unvorstellbare Zerstörungen in den angegriffenen Regionen verursachen. Er wäre gleichzeitig mit katastrophalen ökologischen Folgen verbunden. Ein jahrelang andauernder „nuklearer Winter“ würde zum Zusammenbruch der Nahrungsmittelversorgung für die Weltbevölkerung führen.

Im Zuge der sich seit Mitte des ersten Jahrzehnts ausweitenden Entfremdung und des Vertrauensverlusts zwischen Russland und den USA bzw. der NATO kehrten die Atomwaffen Schritt für Schritt wieder ins Zentrum der strategischen Planungen zurück. Für Moskau sind die Kernwaffen ausweislich der russischen Militärdoktrin das Rückgrat der nationalen Verteidigungsstrategie. Die NATO bekennt sich seit Jahren in Erklärungen ihrer Staats- und Regierungschefs/-chefinnen zu ihrem Status einer „nuklearen Allianz“. Im Zusammenhang mit der völkerrechtswidrigen Intervention in der Ukraine 2014 und der Annexion der Krim brachte der russische Präsident Wladimir Putin seine Atomwaffen rhetorisch ins Spiel, was im Westen vielfach als nukleares Säbelrasseln verstanden wurde. Die Stationierung russischer bodengestützter Marschflugkörpersysteme des Typs 9M729, die nach westlichen Erkenntnissen aufgrund ihrer 500 Kilometer übersteigenden Reichweite gegen den Mittelstreckenvertrag (INF-Vertrag) von 1987 verstoßen, provozierte 2019 den Kollaps dieses zentralen Bausteins der internationalen Rüstungskontrolle für Europa. Im Zuge gegenseitiger Vorwürfe, das Abkommen zu verletzen, entstand der Eindruck, dass beide Mächte aus geostrategischen Erwägungen und die Interessen Europas missachtend, nicht mehr an diesem Vertragswerk interessiert sind. Die USA und Russland haben inzwischen den Abrüstungs- und Rüstungskontrollpfad verlassen und stellen die Abschreckungslogik wieder in den Mittelpunkt ihrer Sicherheitsstrategien. Falls der New-Start-Vertrag, der die strategischen Kernwaffen begrenzt, bis zum 5.2.2021 nicht verlängert wird, werden alle vertraglichen Begrenzungen der Atomwaffen der beiden Großmächte aufgehoben sein. Es droht eine Rüstungsdynamik mit potenziell negativen Folgen für die strategische Stabilität. Beide Mächte gefährden damit überdies den für die Nichtweiterverbreitung wichtigen Atomwaffensperrvertrag (NPT), der ihnen Abrüstungsschritte auferlegt hat. Offenbar liegen die größten Hürden für eine New-Start-Verlängerung in Washington.

Nuklearstrategische Rationale gestern und heute

In der nuklearstrategischen Debatte werden traditionell zwei Szenarien bzw. Denkschulen differenziert, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Das erste Szenario ist auf die Triade der strategischen Kernwaffensysteme (Interkontinentalraketen, seegestützte Raketen und Langstreckenbomber) bezogen. Im Mittelpunkt steht das Konstrukt der strategischen Stabilität, das auf einer technologisch gesicherten Zweitschlagsfähigkeit (Mutually Assured Destruction) basiert. Strategische Stabilität ist hier nach traditioneller Auffassung dann gegeben, wenn einem potenziellen Gegner durch die Konfiguration der eigenen Systeme verwehrt wird, diese in einem Erstschlag (First Strike Capability) auszuschalten. Auf gesicherter Zweitschlagsfähigkeit (Second Strike Capability) beruht der militärische Kern strategischer Stabilität. Dieser Kern bedarf der politischen Ummantelung durch ein stabilisierendes Management der strategischen Beziehungen der Atommächte, in der kooperative Rüstungssteuerung einen zentralen Raum einnehmen sollte. Die seit Jahren gewachsene geopolitische Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und Russland untergräbt schleichend diese Stabilitätsbedingungen.

Aus meiner Sicht behält das Prinzip strategischer Stabilität unabhängig von der Größe der jeweiligen Arsenale und losgelöst davon, ob eine bipolare oder multipolare Weltsicht vorherrscht, auch im 21. Jahrhundert ihre Gültigkeit. Die Überlebensfähigkeit ihrer Kernwaffen bleibt für alle Atomwaffenstaaten, größere und kleinere, eine Conditio sine qua non. Die USA und Russland stehen indessen vor der Herausforderung, gegebenenfalls unter Einbeziehung Chinas, ein neues Verständnis von strategischer Stabilität zu entwickeln. Denn die dem Stabilitätsbegriff zugrunde liegenden Parameter sind durch Raketenabwehr, Hyperschallsysteme, U-Boot-Abwehrsysteme, Anti-Satellitenwaffen und Cyber-Angriffspotenziale auf die digitalen Führungssysteme komplexer geworden. Vor allem die Auswirkungen der technologischen Entwicklungen in der neuen Domäne Cyber- und Informationsraum auf die Nuklearstrategien und die strategische Stabilität müssen stärkere Beachtung finden. Es bedarf vertiefter Analysen, inwieweit die digitalen Command-and-Control-Systeme für Einsatz und Sicherheit der Atomwaffen durch Cyberangriffe verletzbar werden, insbesondere im Blick auf potenzielle technologische Durchbrüche? Die Überlebens- und Funktionsfähigkeit der nuklearen Abschreckung könnte dadurch infrage gestellt werden, mit gefährlichen Implikationen für die Stabilität in Krisenlagen. Überdies erscheint möglich, dass massive Cyberangriffe auf zentrale kritische Infrastrukturen eines Landes eine größere Schadenswirkung hervorrufen, als Atomwaffen mit geringeren Sprengwerten, und damit gegebenenfalls die nukleare Schwelle unterlaufen.

Das zweite Szenario ist auf einen konventionellen bewaffneten Konflikt bezogen, in dem eine Eskalation mit Atomwaffen möglich ist. Im Kalten Krieg gehörte es zur Staatsraison der Bundesrepublik, die 5.000 in Deutschland stationierten US-Kernwaffen als politische Abschreckungswaffen und keinesfalls als Gefechtsfeldwaffen zu begreifen. Die Bundesregierung legte größten Wert auf ein ungeteiltes Abschreckungskontinuum, in dem erwartet wurde, dass die USA zur Verteidigung Europas im Rahmen einer vorbedachten Eskalation glaubwürdig den Einsatz ihrer strategischen Waffensysteme androhen. Aus deutscher Sicht war es zwingend, im Fall des Versagens der Abschreckung schlimmstenfalls einen Nuklearwaffeneinsatz mit dem Ziel der schnellen Kriegsbeendigung zuzulassen, um die Selbstvernichtung des eigenen Landes durch viele Atomschläge zu verhindern. Dies widersprach indessen dem Verständnis der Kriegsplaner_innen in Washington und in der NATO, die den Einsatz taktischer Nuklearwaffen mit kurzer Reichweite auf dem überwiegend deutschen Gefechtsfeld im Rahmen der vorbedachten Eskalation planten und in NATO-Übungen simulierten. Die Stationierung zahlreicher Atomwaffenträger mit kurzen Reichweiten, über die ebenfalls die deutschen Streitkräfte verfügten, untermauerten diese Planungen. Dazu gehörten nukleare Artilleriesysteme u. a. in der Bundeswehr und bis 1965 sogar die Miniaturatomwaffe „Davy Crockett“, deren Atomsprengkopf von einer Dreibeinlafette über nur zwei bis vier Kilometer Entfernung durch amerikanische Soldat_innen verschossen werden konnte. Auf sowjetischer Seite gab es Kofferbomben, die durch Personal der Spezialkräfte getragen und zur Detonation gebracht werden konnten. Über den Verbleib dieser Atomwaffen im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion bestehen immer noch Zweifel. Die Tatsache, dass der Kalte Krieg nicht in einen heißen Konflikt umschlug, ist ein großer Glücksfall für Deutschland, denn im Fall einer nuklearen Eskalation wäre es wahrscheinlich größtenteils zerstört und unbewohnbar geworden.

Die NATO hat ihre taktischen Atomwaffen nach dem Kalten Krieg abgerüstet und verfügt in Europa im Rahmen der nuklearen Teilhabe von fünf NATO-Staaten nach Expertenhinweisen noch über ca. 150 bis 200 atomare Flugzeugbomben, die als substrategische Waffen bezeichnet werden. Dementgegen hält Russland weiterhin 1.500 bis 1.800 taktische Kernwaffen in seinem Arsenal, die teilweise in der Exklave Kaliningrad, also innerhalb des NATO-Raumes disloziert sind. Russische Expert_innen verweisen mit Blick auf diese hohe Zahl auf die insgesamt 500 französischen und britischen Nuklearsprengköpfe. Nicht wenige Expert_innen halten den heutigen Zustand der Beziehungen zwischen Russland und den USA bzw. der NATO für instabiler und gefährlicher als im Kalten Krieg. In Osteuropa stehen sich erneut militärische Kräfte Russlands und der NATO unmittelbar gegenüber, ohne dass stabilisierende Maßnahmen zur Transparenz und Vertrauensbildung vereinbart sind, die zur Verhinderung unbeabsichtigter Zusammenstöße mit Eskalationspotenzial beitragen können.

Im Folgenden soll die Schuldfrage, welche Seite für die neue Konfrontation mehr verantwortlich ist, nicht im Mittelpunkt stehen. Vielmehr geht es darum, die neue Nuklearwaffendebatte in systemischer Perspektive und mit dem Erkenntnisinteresse zu beleuchten, welcher Handlungsbedarf besteht, um Frieden und Sicherheit in Europa zu erhalten. Die Betrachtung der Lage nur von einem Interessenstandpunkt aus würde die übergreifenden Wirkungszusammenhänge ausblenden. Die Folgen eigenen Handelns müssen stets in die sicherheitspolitische Analyse und die strategische Vorausschau einbezogen werden. Nukleare Abschreckungstheorien sind Denksysteme voller Ungenauigkeiten, Ungewissheiten und manchmal Mystifikationen. Sie beruhen auf zu glaubenden, letztlich nicht belegbaren Annahmen über den Verlauf eines Atomkrieges. Niemand weiß und keiner vermag vorherzusagen, welche Dynamiken sich vor und nach dem Ersteinsatz einer Kernwaffe ergeben würden.

Dieser Beitrag konzentriert sich auf die dominierenden Atommächte Vereinigte Staaten und Russland und deren überragende Bedeutung für die europäische Sicherheit. Obwohl die Zahl chinesischer Atomsprengköpfe mit unter 300 angegeben wird, gewinnt der Faktor China in den nuklearstrategischen Überlegungen von Washington und Moskau an Bedeutung. Insbesondere die chinesischen Mittelstreckensysteme üben schon einen hemmenden Einfluss auf die Rüstungskontrolle zwischen den atomaren Großmächten aus. Vor allem die USA fordern vor dem Hintergrund der geostrategischen Rivalität beider Supermächte im indo-pazifischen Raum die Einbeziehung Chinas in Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen. Die Atomwaffen Indiens und Pakistans haben im Zusammenhang mit der Zunahme von Spannungen zwischen beiden Regierungen im Jahr 2019 international wieder stärkere Beachtung gefunden. Ein indisch-pakistanischer Krieg mit atomarer Eskalation würde das seit Hiroshima und Nagasaki bestehende nukleare Tabu brechen und könnte überdies weitreichende globale ökologische Folgen nach sich ziehen.

Europäische Dilemmata der erweiterten Abschreckung durch den Bündnispartner Vereinigten Staaten

Die Staats- und Regierungschefs/-chefinnen der NATO haben in ihren Gipfelerklärungen von 2016 und 2018 den Charakter der NATO als nukleares Bündnis betont und differenzierter als in früheren Kommuniqués die Grundzüge ihres politischen Abschreckungs- und Verteidigungsrationals beschrieben. Sie akzentuieren darin die Rolle der strategischen und substrategischen Kernwaffen für eine glaubwürdige Abschreckung und unterstreichen die Notwendigkeit der permanenten Anpassungsfähigkeit des Bündnisses mit Blick auf die Rüstungsentwicklung potenzieller Gegner. Die Bedeutung der nuklearen Teilhabe europäischer Staaten wird hervorgehoben.

In der medialen und wissenschaftlichen Debatte über die Atomwaffen fällt seit Jahren auf, dass sich nur wenige Autor_innen mit den Rationalen und Kalkülen befassen, die den nuklearen Abschreckungsstrategien zugrunde liegen. Die Debatte ist meist auf die Waffensysteme und deren Abrüstung und Rüstungskontrolle fokussiert. Bisweilen entsteht der Eindruck, dass sich ein großer Teil der Wissenschaftler_innen und die meisten sicherheitspolitischen NGOs in Deutschland aus politisch-moralischen Gründen nicht mit dem nuklearstrategischen „Maschinenraum“ befassen. Es fällt offenbar leichter, sich auf Waffensysteme zu konzentrieren und in Abrüstungskategorien zu denken, anstatt sich sachlich mit Nuklearstrategien auseinanderzusetzen. Faktisch wird das Feld so den Strateg_innen und Planer_innen in den militärpolitischen Stäben überlassen, ohne deren Konzepte und Gedankengänge zu durchdringen und intellektuell herauszufordern. Dies war im Kalten Krieg anders. Als Beispiel seien die Wissenschaftler_innen um Carl Friedrich von Weizsäcker erwähnt, die sich z. B. mit der NATO-Strategie der „Flexible Response“ kritisch und fachkundig auseinandergesetzt haben. Viele ihrer damaligen Erkenntnisse sind heute wieder aktuell. Auch Wolf Graf von Baudissin, der erste Direktor des Instituts für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), hat sich in den 1980er Jahren dezidiert zur Nuklearstrategie und Rüstungskontrolle der Kernwaffen geäußert, u. a. anderem im Rahmen einer Studiengruppe der Vereinigung deutscher Wissenschaftler.

Mit der tragenderen Rolle der Atomwaffen in der aktuellen Strategie der NATO kehren längst überwunden geglaubte Dilemmata der erweiterten Abschreckung, das heißt der Ausdehnung des amerikanischen „atomaren Schutzschilds“ auf Europa wieder zurück. Im Mittelpunkt jeder Abschreckungsstrategie steht die Frage nach deren Glaubwürdigkeit. Eine zentrale Überlegung ist, dass ein Spektrum an nuklearen Optionen und Einsatzmitteln erforderlich ist, um diese Glaubwürdigkeit zu untermauern. Damit verbunden ist das Rational, dass der erweiterte Atomschirm der USA für Europa weniger verlässlich sei, wenn dazu nur die amerikanischen strategischen Nuklearwaffen zur Verfügung stünden. Erst die Androhung des Einsatzes von US-Atomwaffen, die vom europäischen Boden aus und insbesondere durch Streitkräfte europäischer Bündnispartner eingesetzt werden können, stelle eine glaubwürdige Abschreckung her. Dieses Argument gründet auf der meist unausgesprochenen Annahme, dass die USA aus ureigenem nationalen Interesse versuchen würden, eine unvermeidbare nukleare Eskalation zwischen der NATO und Russland möglichst auf den europäischen Raum zu begrenzen und das eigene Territorium als Sanktuarium anzusehen und nicht in Mitleidenschaft zu ziehen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat diesen grundsätzlichen Sachverhalt wie folgt auf den Punkt gebracht: „Amerika wird zur Rettung Europas nicht die Selbstvernichtung riskieren.“ Es ist anzunehmen, dass jede_r amerikanische Präsident_in vermeiden will, in einem Krieg in Europa Nuklearwaffen einzusetzen. Sollte die nukleare Schwelle aber dennoch überschritten werden, dürften die USA, wie im Übrigen ebenso Russland, bemüht sein, ihr eigenes Territorium aus einer nuklearen Eskalation herauszuhalten. Die Glaubwürdigkeit der erweiterten Abschreckung beruht daher letztendlich auf dem unkalkulierbaren Risiko für einen Gegner, nicht hinreichend sicher einschätzen zu können, wie der oder die amerikanische Präsident_in und die NATO in einer nuklearen Krise reagieren würden.

Vor diesem Hintergrund sind die Parameter der aktuellen Modernisierung und Weiterentwicklung der Atomwaffentechnologie zu betrachten. Sie ist auf amerikanischer Seite durch weiter erhöhte Zielgenauigkeit der Trägersysteme und die Low-Yield-Modernisierung, das heißt durch neue Atomsprengköpfe mit kleinen Sprengwerten charakterisiert. Die neue B 61-12 Wasserstoffbombe, mit der auch die Dual-Capable-Flugzeuge der europäischen NATO-Staaten im Rahmen der nuklearen Teilhabe ausgerüstet werden, verfügt nach Medieninformationen über einstellbare Sprengwerte im Bereich unter einer Kilotonne. Die US-Streitkräfte verfügen nach der Einführung hochwirksamer konventioneller Sprengköpfe (Prompt Global Strike) auf strategischen Trägersystemen neuerdings auch über nukleare Gefechtsköpfe mit relativ geringer Sprengkraft auf seegestützten ballistischen Raketen. Diese Technologie basiert offensichtlich auf der Absicht, flexiblere Einsatzoptionen zu schaffen, das heißt die Systeme handhabbarer bzw. einsetzbarer zu machen, indem die Schadenswirkung einer Nuklearexplosion begrenzt wird. Auf amerikanischer Regierungsseite wird argumentiert, dass die Abschreckung dadurch gestärkt werde, insbesondere im Hinblick auf die Verbreiterung des Reaktionsspektrums gegen neue auf Europa zielende russische Mittelstreckensysteme. Diese Argumentation gründet auf nicht seriös begründbaren Annahmen und Vermutungen. Denn niemand kann realistisch einschätzen, was zwischen den Atommächten vor und nach dem Ersteinsatz einer Nuklearwaffe passieren wird. Eine unweigerliche Folge der neuen Low-Yield-Atomwaffen dürfte die Senkung der nuklearen Schwelle sein. Die selbst abschreckende bzw. selbst disziplinierende größere Schadenswirkung soll offenbar auf diese Weise verringert werden. Dies könnte sich beim Versagen der Abschreckung für die betroffenen Länder am Ende als verhängnisvoll erweisen. Denn nach dem Ersteinsatz von Atomwaffen mit kleineren Sprengwerten besteht die reale Gefahr, dass eine Spirale von Schlägen und Gegenschlägen mit am Ende größten Verwüstungen entsteht. Vor diesem Hintergrund muss über politische Konsultationen in der NATO verhindert werden, dass die Fahrlässigkeit, mit der im Kalten Krieg in Ost und West rhetorisch und planerisch mit Atomwaffen umgegangen wurde, tendenziell in das aktuelle strategische Denken zurückkehrt.

In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass Russland den atomaren Rüstungswettlauf ebenfalls anheizt und damit zur strategischen Instabilität beiträgt. Die Entwicklung und Indienststellung neuer Hyperschallatomwaffen (Luft-Boden-Rakete „Kinchal“ und Gleitflugkörper „Awangard“) verschärft die ohnehin bestehende nuklearstrategische Asymmetrie in Europa. Auch wenn diese Systeme vermutlich u. a. als Gegenrüstung zur amerikanischen Raketenabwehr konzipiert wurden, provoziert Moskau dadurch intensiver werdende Debatten in der NATO über Abschreckungslücken und Nachrüstungsforderungen.

Wege aus dem nuklearstrategischen Dilemma Europas

Zahlreiche Aussagen des amerikanischen Präsidenten Donald Trump haben in NATO-Staaten eine Debatte darüber ausgelöst, ob die erweiterte Abschreckung in der NATO weiterhin glaubwürdig bzw. verlässlich sei. Meiner Ansicht nach lenkt diese oft geäußerte Perzeption von dem tatsächlichen operativen Geschehen in der amerikanischen Rüstungsplanung ab. Die oben skizzierten technologischen und nuklearstrategischen Trends führen eher zu der Frage, ob die US-Administration die erweiterte Abschreckung nicht dennoch stärken will, dies aber im Sinne der Führbarkeit eines auf Europa oder Asien begrenzten Atomkriegs versteht. Das liefe dem Interesse der europäischen NATO-Staaten an der Rolle der Atomwaffen als politische Waffen in einem ungeteilten Abschreckungskontinuum und an einer hohen Schwelle für deren Einsatz zuwider.

In der sich intensivierenden deutschen Debatte über künftige Wege der Abschreckung sind vor allem zwei Strömungen erkennbar. Eine Denkrichtung, die wachsenden Zulauf u. a. im linken deutschen Parteienspektrum und den Kirchen erhält, fordert, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt und folglich aus der nuklearen Teilhabe aussteigt. Die entgegengesetzte Denkrichtung setzt auf eine die NATO-Abschreckung ergänzende oder ersetzende erweiterte Abschreckung auf Basis des französischen Nuklearpotenzials. Beide Strömungen fußen, ähnlich wie in den politischen Auseinandersetzungen um Frieden und Sicherheit im Kalten Krieg, auf völlig unterschiedlichen Voreinstellungen, die in den aktuellen Debatten oft ausgeklammert werden. Mehr oder weniger pazifistisch geprägten Grundauffassungen, wie z. B. dem Konstrukt der „Friedensmacht“ und der Ablehnung machtpolitischen Denkens, stehen Positionen entgegen, die die deutsche und europäische Sicherheit gegen atomare Bedrohungen von außen auch mit Kernwaffen abzusichern bereit sind. Dabei unterscheiden sich die Geister in der Einschätzung des russischen konventionellen und atomaren Militärpotenzials, vor allen Dingen der hohen Zahl an Atomwaffen kürzerer Reichweite, u. a. in Kaliningrad. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche strategische Funktion diese Waffen für Moskau gegenüber Europa haben und inwieweit es realistisch oder unrealistisch erscheint, dass Russland seine Atomwaffen in Krisensituationen zur politischen Erpressung nutzen würde. Diese Frage darf im Sinne intellektueller Redlichkeit nicht ausgeklammert, sondern muss beantwortet werden.

Der Atomwaffenverbotsvertrag, deren Protagonisten eine politisch-moralische Diskreditierung der Kernwaffen anstreben, wurde bisher von über 120 Staaten, weit überwiegend von Regierungen des globalen Südens, unterzeichnet. Die Atommächte und die NATO-Staaten sind dem Vertragswerk erwartungsgemäß nicht beigetreten. Als politische Mahnung an die Atommächte, ihren Abrüstungsverpflichtungen nachzukommen, erscheint diese Initiative durchaus sinnvoll. Denn die Nuklearmächte gefährden durch ihre Abkehr vom Abrüstungspfad den äußerst wichtigen Atomwaffensperrvertrag (NPT), in dem sie einst versprochen hatten, den nuklearen Abrüstungsprozess weiterzuführen. Der Atomwaffenverbotsvertrag erinnert außerdem daran, dass die Reduzierung der derzeit ca. 14.000 Atomwaffen in der Welt angesichts der unvorstellbar grausamen humanitären und ökologischen Folgen eines Atomwaffeneinsatzes auf der politischen Agenda bleiben muss. Als Mittel zur konkreten Stärkung von Frieden und Sicherheit ist das Vertragswerk allerdings untauglich und höchstwahrscheinlich sogar kontraproduktiv. Atomwaffenstaaten lassen sich durch einen Verbotsvertrag nicht beeindrucken. Substanzielle asymmetrische Abrüstungsschritte dürften in einer Welt der machtpolitischen Gegensätze und Krisen mit erheblichen politischen Instabilitäten und Friedensgefährdungen verbunden sein. Nur balancierte Schritte der Abrüstung und Rüstungskontrolle, wie beispielsweise im Rahmen von New Start oder ganz neuen Rüstungskontrollinitiativen, können Wege entstehen lassen, die von Atomwaffen wegführen.

Inzwischen wird angesichts von Zweifeln an der Zuverlässigkeit des amerikanischen Schutzschirms in Deutschland die Möglichkeit einer erweiterten Abschreckung durch die Atommacht Frankreich diskutiert. Die Einladung von Präsident Emmanuel Macron zu einem Dialog über atomare Abschreckung an die Europäer_innen hat diese Denkrichtung beflügelt. Zwei Aspekte erscheinen dabei bedenkenswert. Erstens bedarf es der Klärung, welche Zielvorstellungen Präsident Macron hier bewegen und ob Frankreich jemals bereit wäre, seine Autonomie über die Verfügbarkeit der Kernwaffen aufzugeben bzw. zu teilen. Dies wäre überdies ein entscheidender Punkt bei der bereits diskutierten Frage einer deutschen oder europäischen Mitfinanzierung der französischen Nuklearstreitmacht. Zweitens bedarf es einer realistischen Bewertung, ob die Nuklearstreitkräfte Frankreichs in ihrer Zahl und Konfiguration trotz der insgesamt ca. 300 Atomsprengköpfe eine hinreichende Überlebensfähigkeit besitzen. Dies kann unter der Annahme von maximal zwei permanent im Einsatz befindlichen strategischen U-Booten, dem Rückgrat der französischen nuklearen Abschreckung, sowie einigen nuklearfähigen Bombern mit begrenzter Reichweite und Eindringfähigkeit durchaus bezweifelt werden. Überdies würden die oben skizzierten prinzipiellen Probleme der erweiterten Abschreckung eines Staates für andere im Grunde bestehen bleiben. Würde der französische Präsident z. B. in seinem nationalen Abschreckungsrational für die Verteidigung Hamburgs die Vernichtung von Marseille riskieren?

Aus all dem resultiert, dass es für NATO-Europa auf absehbare Zeit keine realistische Alternative zur erweiterten Abschreckung durch die Vereinigten Staaten gibt. Es sei denn, die Debatte würde sich in Richtung auf eine primär seegestützte multinationale europäische Abschreckungsmacht weniger EU-Staaten, gegebenenfalls im Sinne der strukturierten Zusammenarbeit und auf Basis der französischen Nukleartechnologie entwickeln – durchaus ergänzend zur erweiterten Abschreckung durch die USA im NATO-Rahmen und damit die Kalküle jedes potenziellen, nuklear gerüsteten Gegners komplizierend. Derartige Visionen verweilen einstweilen hinter den bestehenden politischen Horizont, erscheinen aber zumindest theoretisch diskussionswürdig.

Insgesamt bleibt den europäischen Regierungen angesichts der offensiven russischen Rüstungspolitik mit weiterhin mehreren Tausend auf Europa gerichteten Atomwaffen kurz- und mittelfristig nur die Wahl, auf den amerikanischen Atomschirm zu setzen und weit stärker als bisher auf deren Ausrichtung Einfluss zu nehmen. Atomarem „Gefechtsführungsdenken“ und der Regionalisierung des Einsatzes von Nuklearwaffen muss dabei auf bilateraler Ebene und im Rahmen der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) der NATO Einhalt geboten werden. Die nukleare Teilhabe der fünf europäischen NATO-Staaten mit Kampfflugzeugen (Dual Capable Aircraft) ist für diese Einflussnahme auf die US-Regierung unverzichtbar, weil sie die für die USA fundamentale und nachvollziehbare transatlantische Risikoteilung untermauert und den teilhabenden Partnern ein gewisses Maß an Transparenz, auch über die NPG hinaus, ermöglicht. Ein Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe würde das Risiko für Deutschland vergrößern, weil die Einflussnahme in der NATO und auf deren Nuklearstrategie geschwächt würde. Wer dies dennoch fordert, sollte über politisch-moralische Begründungen hinaus erklären, wie er oder sie auf andere Weise dem massiven, auf Europa gerichteten Nuklearpotenzial Russlands zu begegnen bereit ist. Hinweise auf Diplomatie und Dialog reichen dazu bei Weitem nicht aus. Es gibt keinen glatten Ausweg aus dem nuklearen Problem. Es geht um verantwortungsvolles politisches Handeln in einer potenziell existenziellen Dilemmasituation. Die Nachfolgeentscheidung für die als Atomwaffenträger vorgesehenen veralteten Tornado-Kampfjets der deutschen Luftwaffe ist seit Jahren überfällig. Die Optionen dafür liegen lange auf dem Tisch. Etwaige Hintergedanken in dem einen oder anderen politischen Lager, den Ausstieg aus der deutschen nuklearen Teilhabe indirekt über die technisch notwendige Ausmusterung der Tornado-Kampfflugzeuge zu erzwingen, wären unseriös.

Darüber hinaus bedarf es dringend neuer Initiativen für eine Rüstungskontrolle der substrategischen Waffen in Europa, um das weitere Abrutschen in strategische Instabilität zu vermeiden. Der aktuelle Zusammenbruch der nuklearen Rüstungskontrolle darf nicht zu einer Art unberechenbarer Anarchie in den strategischen Beziehungen führen. Neue Initiativen sollten von den Europäer_innen ausgehen, weil es in ihrem herausragenden Interesse liegt, Kernwaffen ausbalanciert zu reduzieren. Als Lichtblick erscheint, dass Delegationen aus den USA und Russland über die Implikationen der technologischen Entwicklungen für die strategische Stabilität sprechen, und dass China dabei gegebenenfalls einbezogen werden könnte. Eine solche trilaterale Rüstungskontrolle ist aufgrund der erheblichen Asymmetrien äußerst schwierig. Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen, die dies fordern, sollten Ideen und Vorschläge entwickeln, wie trilaterale Wege zu mehr Stabilität konkret beschritten werden können. Es bleibt zu hoffen, dass bilaterale und gegebenenfalls trilaterale Konsultationen zu einem gemeinsamen Verständnis von strategischer Stabilität und zu vereinbarten Prinzipien und Verhaltensregeln führen, um Frieden und Sicherheit zu erhalten. Amerikanisch-sowjetische Abkommen aus den frühen 1970er Jahren, wie z. B. das „Abkommen über die Verhinderung eines Nuklearkrieges“ von 1973, könnten dabei Pate stehen bzw. als Muster für eine Rückbesinnung auf das gemeinsame existenzielle Interesse an kooperativer Sicherheit gelten. Eine politisch bindende Vereinbarung zwischen Russland und der NATO zu einem vertrauensbildenden „No First Use“ von Atomwaffen könnte unter Umständen als erster Schritt im NATO-Russland-Rat abgestimmt und beschlossen werden. Dieser Vorschlag bleibt allerdings so lange unrealistisch, wie es nicht gelingt, eine politische Entspannung im Verhältnis USA/NATO und Russland herbeizuführen und sich trotz substanzieller Gegensätze auf gemeinsame Interessen zu besinnen. Das gegenseitige Vertrauen ist schnell verspielt worden. Vertrauen wieder aufzubauen ist ein langwieriges Unterfangen. Die Zeit aber drängt.

Autor: Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a.D. und Berater zu Themen multilateraler Sicherheitspolitik

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