„Quo vadis Reserve?“

Das Weißbuch 2016 skizziert den derzeit gültigen sicherheitspolitischen Rahmen für die Bundesregierung und formuliert eine Standort- und Kursbestimmung für die strategische Ausrichtung der Bundeswehr und damit auch der Reserve. Dort wird festgestellt: „Die Reserve der Bundeswehr bleibt auch in Zukunft für Landes- und Bündnisverteidigung, Heimatschutz sowie Einsätze im Rahmen des internationalen Krisenmanagements unverzichtbar.“

Diese pauschale und gleichzeitig überaus fordernde politische Vorgabe übersetzt die Konzeption der Bundeswehr (KdB), die Verteidigungsministerin von der Leyen am 20. Juli nach fast zweijähriger Arbeit unterschrieben hat, in militärische Eckwerte für die Struktur und Ausgestaltung der Reserve bei unveränderter Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht in folgende Kernaussagen:

Die Reserve

  • ist wesentlicher Bestandteil der nationalen Sicherheitsvorsorge;
  • ist integraler Bestandteil der Streitkräfte;
  • gliedert sich in eine allgemeine und beorderte Reserve;
  • unterstützt die Streitkräfte und deren Aufwuchs bei der Landes- und
    Bündnisverteidigung;
  • entlastet die aktiven Kräfte im Rahmen des Heimatschutzes;
  • unterstützt im Fall von Naturkatastrophen und Innerem Notstand;
  • verstärkt die aktive Truppe im gesamten Missionsspektrum der Bundeswehr;
  • ist Botschafter und Mittler der Bundeswehr und der Sicherheitspolitik der
    Bundesregierung in die Gesellschaft hinein.

In der Gesamtheit stellen diese Feststellungen zweifelsohne „zeitlose“ und schon in der Vergangenheit wiederholt gehörte Forderungen mit nur geringem Neuigkeitswert dar. Was jedoch auffällt ist die weitere Anhebung des bereits in der Vergangenheit nur schwer zu erfüllenden „Level of Ambition“ mit dem Hinweis auf die Verwendung der Reserve im gesamten komplexen und umfassenden Einsatz- und Missionsspektrum der Bundeswehr im In- und Ausland.

Somit entsteht der Eindruck, dass die Konzeption der Bundeswehr offensichtlich keine grundlegende Neuausrichtung der Reserve für die Zukunft verfolgt, sondern eher eine „ruhige“ Weiterentwicklung fordert. Diese Vorgabe soll bis 2019 durch eine „Strategie der Reserve“ umgesetzt werden, die in den nächsten Monaten erarbeitet werden und die seit 2012 gültige Konzeption der Reserve (KdR) ersetzen soll. An der Erarbeitung dieser Strategie sollen u.a. Beteiligungsgremien und der Beirat für Reservistenarbeit konstruktiv mitarbeiten. Die Chance, die Zukunft der Reserve mitzugestalten, gilt es daher jetzt zu nutzen.

Rahmenbedingungen
Zu den Rahmenbedingungen, die die Reserve wesentlich beeinflussen, gehören zum einen die „militärischen“ Faktoren wie z.B. die Aussetzung der Wehrpflicht, die Reduzierung der Mannschaftsumfänge, die Anhebung der Altersgrenzen für Berufssoldaten, die Soldatenarbeitszeitverordnung und nicht zu vergessen, der umfangreiche Rückzug der aktiven Truppe aus der Fläche, welcher auch zu erheblichen Verlusten bei der Anzahl der Reservisten geführt hat. Zum anderen sind die Arbeitgeber oftmals angesichts der aktuellen sehr guten wirtschaftlichen Konjunktur zurückhaltend, wenn es um die Freistellung von Reservisten geht. Hinzu kommt aber auch die allgemeine „Verweigerungshaltung“, durch persönliches Engagement als Reservist gesellschaftliche Verantwortung sichtbar und aktiv zu leben.

Gleichzeitig funktioniert oftmals die tägliche Auftragserfüllung der Truppe im In- und Ausland nur noch durch engagierte beorderte „Individual“-Reservisten, insbesondere in Spezialfunktionen (Stichwort: Reserve als „Zeitarbeitsfirma“). Sichtbarer Ausdruck für diese partiell reserveabhängige Lage der Bundeswehr sind die umfangreichen und politisch sanktionierten jährlichen Anhebungen der Stellen für Reservedienstleistende von 2.500 (2016) auf geplante 4.500 (2020) durch das Verteidigungsministerium. Somit ist der stets propagierten These der „Unverzichtbarkeit der Reserve“ vordergründig zuzustimmen.

In weiten Teilen handelt es sich jedoch bei der beorderten Reserve, insbesondere wenn es um Fähigkeiten im Team-/Einheits-/Verbandsrahmen geht, um „hohle Fähigkeiten“, weil – jedenfalls noch – Ausrüstung, Ausbildung und Infrastruktur fehlen, weil die Reservisten nicht in „Inübung“ gehalten werden können und weil auch oft die Interaktion mit der aktiven Truppe fehlt. Vor diesem Hintergrund und angesichts der geringen gesellschaftlichen Anerkennung sind Reservisten, die teils vor Jahrzehnten beordert wurden, zur freiwilligen Reservedienstleistung bestenfalls bedingt positiv motiviert. Es ist also zu befürchten einer Illusion der Verfügbarkeit von nicht existenten Fähigkeiten aufsitzen – mit allen Konsequenzen für den militärischen Einsatzwert der Streitkräfte und deren Fähigkeit zur Auftragserfüllung.

Gleichermaßen gravierend stellt sich der Mangel an militärisch nutzbaren Fähigkeiten in der allgemeinen Reserve dar, die sich nahezu vollständig auf die „Kameradschafts- und Brauchtumspflege“, die „Informations- und Öffentlichkeitsarbeit“ sowie auf die „Pflege internationaler Kontakte“ reduziert. Die Wahrnehmung dieser Aufgaben ist zweifelsohne eine wichtige Aufgabe in Deutschland, wo weite Landstriche durch die Reduzierungen der Bundeswehr in den letzten fast 30 Jahren „militärisch entblößt“ sind. Es ist daher richtig, die im Alltag stark verkümmerte Sichtbarkeit der Bundeswehr in der Gesellschaft im Bewusstsein zu halten. Für die Reservisten ist dies ein „hartes Brot“, wollen sie ihre „Brückenrolle“ als Botschafter und Mittler der Bundeswehr in die Gesellschaft wirksam wahrnehmen.

Keineswegs decken die bestehenden Instrumente den Bedarf an Reservisten. Weder regeneriert die aktive Truppe ausreichend „freiwillig“ beorderte Reservisten für die identifizierten Beorderungsumfänge und die (zu) geringen nicht-aktiven Strukturen, noch leistet die allgemeine Reserve den Beitrag, der ihr als „Personalpool Reserve“ zugedacht ist, um die durchhaltefähige Auftragserfüllung sicherzustellen. Für die im Beirat Reservistenarbeit zusammengeschlossenen Verbände fällt die Bewertung ebenso kritisch aus. Abgesehen von der an die Landes- und Bündnisverteidigung gebundenen langfristigen Aufwuchsfähigkeit der Streitkräfte ist der militärische Wert der allgemeinen Reserve unterhalb dieser Schwelle für die Auftragserfüllung nur bedingt erkennbar. Das „Gewinnen“ von Ungedienten für eine Verwendung in der Reserve kann dabei im Einzelfall zielführend sein (Stichwort: Cyber-Reserve), stellt jedoch im Gesamtbild der Reserve bestenfalls den berühmten „Tropfen auf den heißen Stein“ dar.

Das „hohe politische Lied“ auf die „Unverzichtbarkeit der Reserve für die Bundeswehr, heute und zukünftig noch mehr“ (so Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bei der Deutschen Reservistenmeisterschaft im Juni 2018 in Oldenburg) klingt überaus ambitioniert, wenn man den insgesamt defizitären Zustand der Reserve und die fehlenden Ressourcen betrachtet. Hier muss die Strategie der Reserve die richtigen Antworten für eine tragfähige und nachhaltige Zukunft der Reserve mit substantiellem militärischem Einsatzwert geben.

Forderungen an die Entwicklung der Reserve
„Zur Sicherstellung des Bedarfs und auch zur Resilienzbildung in der Gesellschaft muss eine Durchlässigkeit und Vernetzung zwischen Bundeswehr, Gesellschaft und Wirtschaft erreicht werden. Dafür gilt es insbesondere den Reservistendienst insgesamt attraktiver zu gestalten; ihn so weiterzuentwickeln, dass eine langfristige, verlässliche (militärisch nutzbare) Unterstützung durch Reservistinnen und Reservisten (im gesamten Fähigkeitsprofil der Bundeswehr) ermöglicht wird“. (Weißbuch 2016, S. 125) Die militärische Fähigkeitsentwicklung der Reserve sollte dabei u.a. den Leitgedanken folgen, dass die

  • Reserve durchgehend eigene leistungsfähige aktive Strukturen, Instrumente und Verfahren erfordert (Stichwort: Personalführung);
  • Truppenreserve gem. dem „Stamm-Aufwuchs-Prinzip“ inkl. Material, Infrastruktur und Aus- und Weiterbildung in die aktiven Strukturen tief integriert ist;
  • Territorialen Kräfte in nicht politisch, sondern militärisch begründeten regionalen Strukturen konzentriert sind (Stichwort: Heimatschutz);
  • Kräfte des Heimatschutzes um einen leistungsfähigen „aktiven Kern“ erweitert und aufgabengerecht ausgestattet werden (Stichwort: „Host Nation Support“);
  • Verbindungselemente und –strukturen zur bestmöglichen Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit im Kern erhalten, jedoch an die neuen erkennbaren Aufgaben angepasst werden (Stichwort: Drehscheibe und Transitland Deutschland);
  • Allgemeine Reserve als leistungsfähiges Reservoir für Beorderung und Nachwuchsgewinnung durch aktive Territoriale Kräfte unterstützt wird;
  • „Verlässliche Verfügbarkeit“ gefördert und seitens des Gesetzgebers abgesichert wird (Stichwort: Freiwilligkeitsprinzip im Frieden vs. vertragliche Bindung);
  • Betreuung der gesamten Reserve komplementär zwischen Bundeswehr und Verbänden/Vereinen auf der Grundlage einer Leistungsvereinbarung erfolgt.

Quo vadis Reserve?
Die „Strategie der Reserve (SdR)“ muss zunächst das zur Verfügung stehende Potenzial erheben. Eine konzeptionelle Bestandsaufnahme reicht nicht aus. Wir brauchen neue, innovative Antworten, um die überaus fordernden und komplexen Vorgaben der Konzeption der Bundeswehr erfüllen zu können. Ein „weiter so“ unter neuem Deckmantel darf hierbei keine Option sein. Jetzt ist die Zeit zum „umdrehen aller Steine“ und zum kritischen „hinschauen hinter die Fassade“ gekommen, wenn man den Einsatzwert der Reserve nachhaltig gestalten will.

Zweck, Aufgaben und praktische Umsetzung der Strategie der Reserve müssen sich dabei zwingend aus dem angestrebten Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und den eingegangenen Bündnisverpflichtungen ableiten. Es muss in der Reserve durchgehend das Prinzip Qualität vor Quantität gelten. Dabei müssen die Verantwortlichkeiten klar zugeordnet werden.

Jede militärische Aufgabe, die der beorderten Reserve zugeordnet wird, muss am „Level of mbition“ der aktiven Truppe ausgerichtet werden. Das muss nachhaltig haushalterisch, personell, materiell und infrastrukturell abgebildet werden. Die Truppe muss die integrierende Zusammenarbeit mit „ihrer“ beorderten und/oder nichtaktiven Reserve als integralen Bestandteil des täglichen Auftrages verstehen und ihr Handeln insbesondere im Ausbildungs- und Übungsbetrieb danach ausrichten (Stichwort: „Reserve mitdenken“ – „mindset“).

Die militärische Kernkompetenz der beorderten Reserve, insbesondere in den nichtaktiven Truppenteilen, ist zu stärken. Subsidiäre Aufgaben aus dem Bereich der Blaulichtorganisationen sollten auf ein Minimum beschränkt werden. Eine enge Abstimmung mit der vom Bundesinnenministerium erlassenen „Konzeption Zivile Verteidigung (KZV)“ ist mit Blick auf die Novelle der „Rahmenrichtlinie für die Gesamtverteidigung“ vorzunehmen.

Die politisch geforderte und für den Erfolg zwingend notwendige enge Verzahnung der aktiven mit der beorderten Truppe ist durch innovative militärische, aber auch gesetzgeberische Anstrengungen abzusichern (Stichworte: Novellierung des Reservistengesetzes / allgemeine Dienstpflicht).

Die Stärkung der (vertraglichen) Personalbindung und Bereitschaft zur praktizierten Beorderung sollte dabei über neue Instrumente wie Beorderungsprämien, Bonuszahlungen oder attraktive Berufsqualifikationen gefördert werden. Dabei sollte sich die Bundeswehr an entsprechenden „best practices“ verbündeter und/oder benachbarter Nationen orientieren. Nachhaltige Lösungsansätze für das Miteinander der Bundeswehr mit der Gesellschaft, insbesondere mit der Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst, um die angestrebte und notwendige „verlässliche Verfügbarkeit“ zu etablieren, sind zu entwickeln.

Gleichermaßen gilt es, diversifizierte Anreize für die Arbeitgeber zur „verlässlichen Freistellung“ zu schaffen. Erste vertragliche Modelle mit der Deutschen Bahn, der Post und einzelnen Industrie- und Handelskammern sollten weiter ausgefächert werden. Die Initiative „Partner der Reserve“ sollte hierbei als Werbeträger für ein wirtschaftliches Engagement in der sicherheitspolitischen Vorsorge weiter gestärkt und noch sichtbarer werden. Die Herausstellung der Reserve in der Gesellschaft – wie in diesem Jahr als Schwerpunkthema am „Tag der Bundeswehr“ – ist weiter zu verfolgen.

Die allgemeine Reserve ist in ihrer seit Jahrzehnten nachgewiesenen Kernkompetenz in der nationalen und internationalen Botschafter- und Mittlerrolle, der Kameradschafts-, Traditions- und Brauchtumspflege sowie in der Nachwuchsgewinnung und der Bereitstellung von individuellen Spezialfähigkeiten weiter zu fordern und durch aktive Kräfte sowie Schaffung von förderlichen Rahmenbedingungen zu unterstützen.

Der „unverzichtbare“ Stellenwert der gesamten Reserve für die Auftragserfüllung der Streitkräfte sollte sich in eigenständigen (neuen) Verantwortlichkeiten (u.a. Einführung eines Inspizienten Reserve) in der Struktur der Bundeswehr niederschlagen. Die derzeit überwiegende Abstützung der allgemeinen und beorderten Reserve auf „Zweit- und Nebenfunktionen“ sollte dabei durchgehend kritisch evaluiert werden. Ziel muss es sein, weitgehend eigene, leistungsfähige aktive Strukturen in allen militärischen Organisationsbereichen in der Fläche zu schaffen.

Das „outsourcing“ der Betreuung der Reserve an externe Organisationen (Verbände/Vereine) ist in diesem Zusammenhang zu überprüfen. Die Dimension einer „Europäischen Armee“ ist mitzudenken. Erste Grundzüge für eine deutsche Beteiligung an einer europäischen Truppenreserve sowie darüber hinaus einer nationalen Territorialen Reserve für den Heimatschutz und für Hilfeleistungen bei Naturkatastrophen, Unglücksfällen und Innerem Notstand sind zu entwickeln. Dieses gilt insbesondere für die Bereiche, in denen bereits aktive Strukturen eng verwoben sind (Stichwort: Deutsch-niederländische Integration in Heer und Luftwaffe).

Fazit
Eine bloße „Auffrischung“ der heutigen Reserve reicht im Lichte der erkennbaren Erfordernisse zur erfolgreichen Weiterentwicklung der „Reserve der Zukunft“ nicht mehr aus. Kreative Ansätze sind auch unter Abstützung auf die Erfahrungen der Vergangenheit zu entwickeln, „hohle Strukturen“ endlich aufzulösen. Neue und unbekannte sowie mutige Wege müssen mit der „Strategie der Reserve“ beschritten werden, damit die ambitionierten politischen Vorgaben der Konzeption der Bundeswehr erreicht werden können.

 

 

Quelle:
Robert Löwenstein
Dipl.-Ing. (FH) und Generalmajor a.D.
Vorsitzender des Beirates Reservistenarbeit
Der Artikel erschien in der Ausgabe September in der Zeitschrift „Europäische Sicherheit & Technik“